Aus SIDDHARTHA von Hermann Hesse
Mit 16 Jahren habe ich es zum ersten Mal gelesen und es wurde mein ständiger weiser Begleiter. In regelmäßigen Abständen von immer wieder einigen Jahren ziehe ich es aus dem Regal, fällt es mir in die Hände. Und immer wieder berührt es mich, hilft mir weiter, finde ich neue anzustreichende Stellen, es ist bekritzelt, kommentiert, hat Eselsohren, Vermerke.
Nun, nach sechs Jahren im Regal hat es mich wieder gerufen. Ich habe gespürt, da steht etwas, das hat aktuell wieder etwas zu mir zu sagen, hat mit mir zu tun. Und ich bin fündig geworden, von Neuem.
Ein Text, an die hundert Jahre alt, berührt mich, bringt mich zum Nachdenken, stärkt mich.
…„Lange noch brannte die Wunde. Manchen Reisenden musste Siddhartha über den Fluss setzen, der einen Sohn oder eine Tochter bei sich hatte, und keinen von ihnen sah er, ohne dass er ihn beneidete, ohne dass er dachte : So viele, so viele Tausende besitzen dies holdeste Glück – warum ich nicht? Auch böse Menschen haben Kinder, und lieben sie, und werden von ihnen geliebt, nur ich nicht.
So einfach, so ohne Verstand dachte er nun…..“
Ja, an den schwachen Tagen tauchen solche Gedanken auf. Ich gräme mich, habe Sehnsucht, verstehe nicht, bin in mir selbst gefangen, kann mein Herz nicht öffnen.
…“,sehnlich und bitter gedachte Siddhartha seines Sohnes, pflegte seine Liebe und Zärtlichkeit im Herzen, ließ den Schmerz an sich fressen, beging alle Torheiten der Liebe. Nicht von selbst erlosch diese Flamme Und eines Tages, als die Wunde heftig brannte fuhr Siddhartha über den Fluss, gejagt von Sehnsucht, stieg aus und war willens, nach der Stadt zu gehen und seinen Sohn zu suchen. Der Fluss floss sanft und leise, es war in der trocken Jahreszeit, aber sein Stimme klang sonderbar: sie lachte! sie lachte deutlich. Der Fluss lachte, er lachte hell und klar den alten Fährmann aus. Siddhartha blieb stehen, er beugte sich übers Wasser, um noch besser zu hören, und im still ziehenden Wasser sah er sein Gesicht gespiegelt , und in diesem gespiegelt es Gesicht war etwas, das ihn erinnerte, etwas Vergessenes, und da er sich besann, fand er es: dies Gesicht glich einem andern, das er einst gekannt und geliebt und auch gefürchtet hatte.“…
…“wie er Abschied genommen hatte, wie er gegangen und nie mehr wiedergekommen war. Hatte nicht auch sein Vater um ihn dasselbe Leid gelitten, wie er es nun um seinenSohn litt?“…
…“War es nicht eine Komödie, eine seltsame und dumme Sache, diese Wiederholung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?….“
Vielleicht ist es gut. Vielleicht brauchen sie einfach ihre Zeit. Und mein Vertrauen. Ich habe sie auf die Reise geschickt, schon allein durch die Tatsache, dass ich sie geboren habe. Warum möchte ich, dass alles harmonisch sein soll? Ich weiß doch, dass das Leben nicht immer harmonisch läuft, dass Disharmonie und ihr aushalten die Entwicklung von Stärke und Reflexion ermöglichen. Ist der Wunsch nach Harmonie nicht vielleicht sogar der Wunsch nach beruhigendem Stillstand? Veränderung und Entwicklung schmerzen manchmal. Will ich vielleicht sogar so etwas wie ihre Absolution, die Gewissheit für meinen Selbstwert alles richtig gemacht zu haben? Um alles belassen zu können wie es ist? Steht mir meine Erwartung im Wege? Was kann ich erfahren durch diese Situation, mit der ich niemals gerechnet habe, die in meinem Kopf nicht einmal als Möglichkeit je vorgekommen ist?
..“Ach, noch blühte die Wunde nicht, noch wehrte sein Herz sich wider das Schicksal, noch strahlte nicht Heiterkeit und Sieg aus seinem Leide.“…
Die Tage, an denen ich an sie denken und liebevoll lächeln kann werden mehr. Ich sehe sie als Kinder in meiner Erinnerung und erfreue mich an den Bildern der Erinnerung. Als junge Mutter habe ich mir gewünscht sehen zu können, wer di se heranwachsenden Menschen sein werden, wenn sie erwachsen sind. Und nun sehe ich wie sie ihren Weg gehen, ich sehe sie und ich kann lächeln und mich freuen. Ich sehe sie, weil ich Abstand genommen habe, Abstand von meinen Erwartungen, Abstand von meinen Paradigmen, Abstand von der Bewertung meiner Gefühle. Ich spüre das Band, das uns aneinander bindet, das nicht zerreißen wird, wenn ich es nicht zulasse. Es so elastisch, wie meine Vorstellung vom Leben es zulässt. Und ich habe gelernt und erfahren, dass Zeit und Raum keine Rolle dabei spielen.
…“Langsam begann er zu sprechen. Worüber sie niemals gesprochen hatten, davon erzählte er jetzt, von seinem Gang zur Rast, von seiner brennenden Wunde, von seinem Neid beim Anblick glücklicher Väter, von seinem Wissen um die Torheit solcher Wünsche, von seinem vergeblichen Kampf wider sie. alles berichtete er, alles konnte er sagen, auch das Peinlichste alles liess sich sagen, alles sich zeigen, alles konnte er erzählen. Er zeigte seine Wunde dar..“…
Ich habe viel zu sagen. Ich bin mit mir selbst im Gespräch und mit Menschen, die mein Vertrauen haben. Ich versuche meinen Gefühlen entsprechend offen zu reden. Ich versuche den Mut zu haben ganz Mensch zu sein. Meine Aufgabe als ihre Mutter bedeutet für mich über das Wort Freiheit nachzudenken.
G.K.